#1

„Steuerzahlergedenktag“ oder Dichtung und Wahrheit

in Ökonomie 19.07.2017 16:20
von Till (gelöscht)
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"Noch nie arbeiteten die Bürger so lange nur für den Staat", so titelte heute die Welt. "Die Belastung der Deutschen mit Steuern und Abgaben ist auf ein neues Allzeithoch geklettert. Nach Angaben des Bundes der Steuerzahler (BdSt) müssen die Bürger in diesem Jahr rechnerisch bis zum frühen Mittwochmorgen, dem 19. Juli, ausschließlich für den Staat arbeiten. Damit fällt der „Steuerzahlergedenktag“ dieses Mal so spät aus wie nie zuvor. Die Gesamtbelastungsquote, die sämtliche Abgaben ins Verhältnis zum Volkseinkommen setzt, beläuft sich 2017 auf 54,6 Prozent. „Von jedem verdienten Euro bleiben somit nur 45,4 Cent zur freien Verfügung übrig“, kritisiert der Präsident des Verbandes, Reiner Holznagel."

Allerdings ist das Ganze eine Milchmädchenrechnung. Bei n-tv ("Falscher Steuerzahlergedenktag") findet man eine sachlichere Darstellung des Themas.

1. Mal davon abgesehen, dass der BdSt den Staat grundsätzlich als Moloch sieht, der unsere Steuern nur verschwendet: Zur gesamten Steuerlast aus Einkommensteuer, Soli und Verbrauchssteuern rechnet der BdSt auch Sozialabgaben, Rundfunkgebühren, EEG-Umlage und sogar Müllabfuhrgebühren hinzu. Dass Sozialabgaben und Gebühren ein individueller Anspruch auf eine Leistung gegenüber steht, ficht den BdSt nicht an. Auch nicht, dass beispielsweise gesetzliche Krankenkassen wesentlich effizienter arbeiten als private.

2. Ökonomen zweifeln die Berechnungsmethode des BdSt an. Die OECD weist für Deutschland 2015 beispielsweise eine Steuer- und Abgabenlast von 36,8 Prozent aus, beim BdSt waren es 52,4 Prozent. Dabei nimmt die OECD das Bruttoinlandsprodukt als Grundlage, der BdSt das Volkseinkommen, eine erheblich kleinere ökonomische Kennzahl. Bei dieser sind allerdings die meisten indirekten Steuern abgezogen, gehen aber trotzdem als Teil der Steuer- und Abgabenlast in die Berechnung des BdSt mit ein. Trotz der Jahre alten Kritik hält der BdSt an seiner Berechnungsmethode fest. Die wissenschaftlich anerkannte Quote spiegele "nicht wider, was die Leute spüren", behauptete BdSt-Chef Reiner Holznagel im ARD-Hörfunk.

3. "Selbst Facharbeiter zahlen den Spitzensteuersatz", heißt es in der Welt. So platt ist das natürlich falsch. Facharbeiter sind nach wie vor weit davon entfernt, auf ihr gesamtes Einkommen den Spitzensteuersatz zu zahlen; gemeint ist der Grenzsteuersatz, bei dem ab rund 53.000 Euro jeder zusätzliche Euro mit dem Spitzensteuersatz versteuert wird.

Reiner Holznagel hat es selbst auf den Punkt gebracht: Bei der Steuerdiskussion geht es nicht um sachliche Information, sondern um "gefühlte Realität".


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#2

RE: „Steuerzahlergedenktag“ oder Dichtung und Wahrheit

in Ökonomie 19.07.2017 17:27
von Luftdrache (gelöscht)
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Zitat von Till im Beitrag #1

Reiner Holznagel hat es selbst auf den Punkt gebracht: Bei der Steuerdiskussion geht es nicht um sachliche Information, sondern um "gefühlte Realität".


Oder um eine Steuersenkungsdebatte. Unsere armen, armen Millionäre müssen ja sooo viel Steuern zahlen


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#3

RE: „Steuerzahlergedenktag“ oder Dichtung und Wahrheit

in Ökonomie 19.07.2017 18:04
von Anthea | 12.678 Beiträge

Zitat von Luftdrache im Beitrag #2
Zitat von Till im Beitrag #1

Reiner Holznagel hat es selbst auf den Punkt gebracht: Bei der Steuerdiskussion geht es nicht um sachliche Information, sondern um "gefühlte Realität".


Oder um eine Steuersenkungsdebatte. Unsere armen, armen Millionäre müssen ja sooo viel Steuern zahlen



Ja, und dass nur ja keiner wieder die Idee von Steuererhöhungen bei den "hüteren Einkommen" bei z.B. alles über eine Mio hinausgehendes aufgreift. Also rein prophylaktisch.


Träume, als lebtest du ewig - lebe, als stürbest du heute. James Dean
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#4

RE: „Steuerzahlergedenktag“ oder Dichtung und Wahrheit

in Ökonomie 19.07.2017 18:17
von Till (gelöscht)
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Man könnte meinen, dass der BdST von der INSM unterwandert ist.


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#5

RE: „Steuerzahlergedenktag“ oder Dichtung und Wahrheit

in Ökonomie 19.07.2017 18:28
von fjodorov (gelöscht)
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Welcher Arbeitnehmer ist schon Mitglied im BdST,dessen Mitglieder dürften eher zur (im kapitalistischen Sprachgebrauch) Oberschicht gehören.Dass denen Steuern ein Graus sind (bis auf die MwSt) kann man an Panamaleaks oder Luxleaks ablesen.Wenn man mal von aus Steuergeldern finanzierten Rüstungsausgaben mal absieht,sind Steuern ja etwas Positives,denn mit ihnen werden Sozialleistungen und Ausgaben für die Infrastruktur finanziert.Diese Ausgaben sind ja wiederum Einnahmen der Bevölkerung und auch der Wirtschaft.


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#6

RE: „Steuerzahlergedenktag“ oder Dichtung und Wahrheit

in Ökonomie 27.07.2017 11:47
von grauer kater (gelöscht)
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Man muss nicht Mitglied des Bundes der Steuerzahler sein, um festzustellen, dass insbesondere der arbeitende Teil, davon wieder der produktiv und mittelbar produktiv arbeitende Teil der Bevölkerung weit überproportional mit Steuern und Abgaben belastet wird, wobei die Leistungen des Staates stetig geringer ausfallen, die der steuerzahlende Bürger in Anspruch nehmen kann. Wobei es ja niemanden gibt, der nicht mit Steuern und Abgaben belastet würde, denn z.B. Mehrwertsteuer zahlen auch Hartz IV Empfänger, Rentner und von der Sozialhilfe Lebende.
Und die Rentendebatte wird jetzt vor der Wahl völlig ausgeblendet, da redet man von Demographie, sagt aber kein Wort zu Produktivitäts- und Effizienzentwicklung, die viel entscheidender die Möglichkeiten einer menschenwürdigen Versorgung der nicht arbeits-/erwerbsfähigen Menschen bestimmen.
Für Rüstung und Kriegsführung, für Diätenerhöhung der Politiker ist immer Geld da, für die Bürger, die wertschaffenden Menschen feilscht man um jeden Cent, der angeblich, wenn mehr bewilligt, den Staat in seinen Grundfesten erschüttern würde.


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#7

RE: „Steuerzahlergedenktag“ oder Dichtung und Wahrheit

in Ökonomie 29.07.2017 18:48
von Till (gelöscht)
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Zitat von grauer kater im Beitrag #6
Und die Rentendebatte wird jetzt vor der Wahl völlig ausgeblendet, da redet man von Demographie, sagt aber kein Wort zu Produktivitäts- und Effizienzentwicklung, die viel entscheidender die Möglichkeiten einer menschenwürdigen Versorgung der nicht arbeits-/erwerbsfähigen Menschen bestimmen.
Völlig richtig. Mit der Demographie hatte die Rente schon seit Bismarck zu kämpfen; das wurde immer durch höhere Produktivität ausgeglichen. Im Grunde ist es ganz einfach: So lange unser BIP steigt, gibt es auch für Rentner genug zu verteilen. Und unser BIP ist seit 1950 mit einer Ausnahme (2009) von Jahr zu Jahr gestiegen.


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#8

RE: „Steuerzahlergedenktag“ oder Dichtung und Wahrheit

in Ökonomie 30.07.2017 11:27
von Luftdrache (gelöscht)
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Zitat von Till im Beitrag #7
Zitat von grauer kater im Beitrag #6
Und die Rentendebatte wird jetzt vor der Wahl völlig ausgeblendet, da redet man von Demographie, sagt aber kein Wort zu Produktivitäts- und Effizienzentwicklung, die viel entscheidender die Möglichkeiten einer menschenwürdigen Versorgung der nicht arbeits-/erwerbsfähigen Menschen bestimmen.
Völlig richtig. Mit der Demographie hatte die Rente schon seit Bismarck zu kämpfen; das wurde immer durch höhere Produktivität ausgeglichen. Im Grunde ist es ganz einfach: So lange unser BIP steigt, gibt es auch für Rentner genug zu verteilen. Und unser BIP ist seit 1950 mit einer Ausnahme (2009) von Jahr zu Jahr gestiegen.


Das Rentenproblem hat Adenauer letztlich auch nicht ernst genommen. Mit dem Hinweis "Kinder kriegen die Leute doch immer" wurde eine drastische Erhöhung des Rentenniveaus der beginnenden 1950er Jahre eingeleitet, dem bereits zum damaligen Zeitpunkt keine reale Gegenfinanzierung gegenüberstand.
Adenauers Entscheidung hat letztlich bis zur aktuellen Rentenkrise fortgewirkt.


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