Ein Plädoyer für die Lüge?
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 15.02.2018 12:23von Anthea • | 12.684 Beiträge
„Die gefährlichsten Wahrheiten sind die Wahrheiten, mäßig entstellt" befand Lichtenberg.
Demnach lauert ja im Grunde genommen Gefahr in jeder Zeile oder verbalen Äußerung politischer Statements. Wer ist dagegen schon gefeit?
Stefan Wachtel hat vor ein paar Jahren ein Buch geschrieben mit dem bedeutungsvollen Titel: "Sei nicht authentisch". Hierzu hieß es in einem Kommentar/Buchbeschreibung in der WELT :
„Wie erfolgreich das Nicht-Authentische sein kann, weiß etwa Stefan Wachtel. Der Executive Coach arbeitet mit Managern und Politikern – und rät ihnen (und in seinem aktuellen Ratgeber auch allen anderen), eben nicht echt zu sein. Man solle sich vielmehr so präsentieren, "wie man wahrgenommen werden will", so Wachtel. Dass man Authentizität rein positiv assoziiere und auch im Berufsleben stets danach strebe, das Innere nach außen zu kehren, sei ein großer Fehler".
Natürlich lässt sich das nicht nur aufs Berufsleben anwenden, sondern im täglichen Leben gehört Rollenspiel oft einfach dazu. Angeben ist auch eine Form, Kompensierung von Komplexen. Übertreibungen, Dekadenz…
„Ehrlichkeit ist manchmal nur grausame Gefühlsrohheit“ bekundete aus seiner Sicht der Philosophieprofessoer Franz Josef Wetz
Das stimmt wohl, wenn man bedenkt, dass man Menschen durch eine schonungslose Wahrheit dann Hoffnung nehmen kann. Also lieber eine gnädige Lüge. Verzeihlich. Obwohl dann später auch der Vorwurf gemacht werden kann „warum hast du mir das nicht direkt gesagt? Und mich im Irrglauben gelassen…“ Hätte doch derjenige möglicherweise beim Kennen der Fakten anders gehandelt.
Der Verdacht liegt nahe, dass Menschen, die auf andere erfrischend authentisch wirken, einfach nur eine gute Selbstinszenierung hinbekommen haben. Eine glaubhafte…
Wem kann man eigentlich noch trauen in dieser unserer „schönen neuen Welt“? Aber die Frage ist eigentlich unsinnig, denn es war schon immer so, dass „der Herr der Lüge“ ein starkes Regiment führte. Manche sagen, sein Amtssitz sei in Rom...
Aber wo liegt denn die Gefahr oder der Nutzen der Lüge, der Halbwahrheit? Wenn es keine wirkliche Wahrheit gibt, dann gibt es ja eigentlich auch keine wirkliche Lüge... Alles irgendwie subjektiv?
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Um das Herz und den Verstand eines anderen Menschen zu verstehen, schaue nicht darauf, was er erreicht hat, sondern wonach er sich sehnt. (Khalil Gibran)
RE: Ein Plädoyer für die Lüge?
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 15.02.2018 20:14von moorhuhn • | 1.490 Beiträge
Kenne dieses "Nicht Authentisch Sein" sehr gut, es ist im Grunde eine erwartete und manifestierte gesellschaftliche Norm, die auf funktionieren ausgerichtet ist.
So ziemlich jeder Zeitgenosse möchte gemocht, anerkannt und in soziale Systeme eingebunden werden, das ist ein menschliches Urbedürfnis. Um dies zu erreichen, wird er nur in seltenen Fällen und nur in einem ausgewählten Personenkreis sein "wahres" Ich/seine wirklichen Gefühle und Wertvorstellungen offenbaren. Insofern nutzt die Halbwahrheit.
Die Menschen unterscheiden sich im Grunde nur in den unterschiedlichen Ausprägungen ihrer Selbstinszenierung und haben auch unterschiedliche Toleranzschwellen, was dann eben zu zwischenmenschlichen Konflikten oder zu Depris des Einzelnen führen kann.
RE: Ein Plädoyer für die Lüge?
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 15.02.2018 22:08von moorhuhn • | 1.490 Beiträge
"Selbstinszenierer" war vielleicht nicht der richtige Begriff, sorry- Selbstverleugner passt besser
Man kann immer schwer einschätzen, wie weit die Selbstverleugnung ausgeprägt ist, aber meine Erfahrungen haben mir bestätigt, dass niemand davon ausgenommen ist.
Habe mich 9 Wochen in einem geschützten Raum aufgehalten, um genau das sowohl an mir selbst als auch an anderen zu erkennen. Als ich sie alle kennenlernte, ein Querschnitt der Gesellschaft- Manager, Studenten, Ärzte, Handwerker, ökologische Intellektuelle, Pensionäre, Hausfrauen mit Katze- hätte ich nie für möglich gehalten, wieviele Masken der Mensch täglich aufsetzt.
RE: Ein Plädoyer für die Lüge?
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 16.02.2018 08:10von Anthea • | 12.684 Beiträge
Ob Selbstinszenierung oder Selbstverleugnung kommt im Grunde in der Auswirkung auf das Gleiche raus.
Die Selbstverleugnung geschieht wohl eher spontan, aus Bedenken, aus Angst, aus Unsicherheit, die in einem Augenblick entsteht, wo bei sich sein, zu sich stehen, wo das ehrliche "Ich" gefragt ist. Dem man in der Außenwirkung dann nicht vertraut.
Die Selbstinszenierung ist eher durchdacht. Die entsprechende "Rolle" ausgefeilt, möglicherweise sogar eingeübt.
Ganz normale Floskeln sind schon Lügen. Wenn ich zu XY "guten Tag" sage, dann habe ich schon gelogen. Wenn derjenige, dem ich den guten Gruß entbiete, nämlich jemand ist, den man absolut nicht ausstehen kann und dem man alles erdenklich "nicht Gute" wünschen möchte/würde, nur nicht, dass sein Tagesverlauf gut sein möge.
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Um das Herz und den Verstand eines anderen Menschen zu verstehen, schaue nicht darauf, was er erreicht hat, sondern wonach er sich sehnt. (Khalil Gibran)
RE: Ein Plädoyer für die Lüge?
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 16.02.2018 18:34von moorhuhn • | 1.490 Beiträge
Selbstinszenierung ist manchmal eine Ausprägung von Selbstverleugnung, soll Stärke, Engagement und Sicherheit suggerieren. Ich will diese Eigenschaften niemanden per se absprechen, aber mit ein bisschen Menschenkenntnis kommt man letztendlich immer wieder zu der Erkenntnis zurück, dass jeder in der Öffentlichkeit nur Halbwahrheiten von sich preis gibt.
Das ist auch gut so, zivilisierte Menschen sollten sich im Griff haben, im realen Leben kommt man mit Philosophie nicht weit.
RE: Ein Plädoyer für die Lüge?
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 18.02.2018 20:30von woipe (gelöscht)
so - und jetzt mal butter bei die fische...
ihr kennt mich jetzt seit 330 beiträgen. manche auch noch aus tagen in einem anderen forum.
was bin ich? ein selbstinszenierer??? ein selbstverleugner??? oder was?
keine hemmungen bitte.
"nichts habe ich mir fester zum grundsatz gemacht, als meine lebensführung nicht nach euren vorurteilen zu gestalten." seneca
RE: Ein Plädoyer für die Lüge?
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 18.02.2018 20:58von Anthea • | 12.684 Beiträge
Zitat von woipe im Beitrag #7
so - und jetzt mal butter bei die fische...
ihr kennt mich jetzt seit 330 beiträgen. manche auch noch aus tagen in einem anderen forum.
was bin ich? ein selbstinszenierer??? ein selbstverleugner??? oder was?
keine hemmungen bitte.
Auf mich wirkst du "normal", also "ganz bei dir". Oder anders:"authentisch"
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Um das Herz und den Verstand eines anderen Menschen zu verstehen, schaue nicht darauf, was er erreicht hat, sondern wonach er sich sehnt. (Khalil Gibran)
RE: Ein Plädoyer für die Lüge?
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 19.02.2018 12:33von Anthea • | 12.684 Beiträge
Wie ist denn nun wirklich der Stellenwert der Lüge? Heiligt der Zweck die Mittel? Und was gilt dann als "heilig"?
Ziemlich klar ist das auf den Steintafeln geschriebene und zu beachtende Verbot/Gebot. Die Nr. 8 von 10 befiehlt: "Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinem Nächsten."
Das ist ein Gebot wider die Verleumdung, die üble Nachrede - und auch eigentlich wider die Schmeichelei? Denn diese ist, auch bekannt als "Diplomatie" ein Zeichen von Unehrlichkeit.
Und wer hält sich daran als quasi "Vorzeigeehrliche"? Politiker, der Klerus? Wobei die Letzteren sogar "Nichtwissen" als unstrittige Wahrheit anpreisen...
Die moderne Theologin Simone Dietz schrieb über den Wert der Lüge und sieht darin keinerlei moralische Verwerflichkeit, so die Lüge denn zum Zwecke angewandter Intelligenz, sprich: Klugheit, erfolge.
Sokrates gar befand, dass eine unwissentlich geäußerte Lüge – derjenige "Lügner" wusste es halt nicht besser - weitaus schlimmer sei, als eine wissentlich und bewusst ausgesprochene. Denn Sokrates stellte das Wissen über alles. Das entspricht z.B. unserer heutigen Vorgehensweisen in der Rechtsprechung: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht!
Der zwischenmenschliche Kommunikationsbereich ist voll von Lügen: Gemeine Lügen, die den anderen vernichten wollen, ihm bewusst weh tun, oder die milden, fürsorglichen Lügen, die einen anderen schonen wollen. Und die zwanghaften im pathologischen Bereich angesiedelten Lügen. Grundsätzlich aus ethischen Erwägungen heraus gilt die Lüge als verwerflich. Im ewigen suchenden Bestreben nach Wahrheitsfindung lehnen – eigentlich – Philosophen die Lüge ab. Nicht alle. Schopenhauer toleriert die Lüge aus einer materialistischen Denkungsweise heraus und als Schutzfunktion vor dem unerwünschten Eindringen anderer in ureigenste Lebensbereiche. Und genau dies ist der Grund dafür, nicht sein Innerstes nach Außen zu kehren. Oder anders: "Denn wie's dadrin aussieht, geht niemand was an." Das ist eine Arie aus "Land des Lächelns.
Man zeigt ja nicht jedem sein Haus, seine Wohnung. Dort lässt man nur gebetene Gäste hinein. Umso mehr gilt es auch, sich selbst, das "Haus seiner Seele" zu schützen. Denn es ist anfällig....
In „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" sieht Nietzsche grundsätzlich den „Denkenden“ mit der Lüge verbunden. Es ist eine Frage der Eitelkeit des Einzelnen in seiner Selbstfindung und versuchter Außenwirkung nach ihm genehmen Vorstellungen. Es ist auch ein Eintauchen in Illusionen und Träume, wo er eine Wahrheit zu finden glaubt in oberflächlichen Versprechungen und Reizüberflutungen.
Nietzsches „Wahrheit“ ist Metapher und Illusion mit lediglich dem Anspruch, es so nennen zu dürfen.
Es gibt viele Untersuchungen und Erkenntnisse von Neurobiologen auf der Suche nach der "Echtheit" eines Menschen. So hat man festgestellt, dass Sprachgebrauch und Lüge in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Hier zeigt sich auch eine Unstimmigkeit hinsichtlich der Sprache und der Körperhaltung. Gute und nicht nur wissenschaftliche Beobachter bemerken dies, so sie genau hinschauen. Zum Beispiel wenn der Mund lächelt, aber die Augen kalt bleiben. Hier kann man sagen, dass die Lüge ihr eigenes Erscheinungsbild besitzt.
Die Religionen behandeln die Rechtfertigung der Lüge unterschiedlich. Das Christentum und der Buddhismus sind da eher strikte Gegner, der Islam kennt Einschränkungen hinsichtlich des Erlaubten.
Für Fundamtentalchristen stehen Augustinus und Thomas von Aquin, für die Lüge grundsätzlich "Sünde" ist. Der moderne Theologe Schockenhoff sieht das etwas anders und meint, dass Lüge erlaubt sei, wenn die Liebe zu Gott und die Liebe der Menschen in der Lüge gestärkt und gerettet werden können!
Wo also hat - und wenn überhaupt - die Lüge ihre Berechtigung? Sind Grenzen fließend? Wer ist Richtschnur? Eigentlich doch immer das "Anonymum Gewissen"?
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Um das Herz und den Verstand eines anderen Menschen zu verstehen, schaue nicht darauf, was er erreicht hat, sondern wonach er sich sehnt. (Khalil Gibran)
RE: Ein Plädoyer für die Lüge? oder eher ein plädoyer für ethisch sauberes leben
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 19.02.2018 14:55von woipe (gelöscht)
Zitat von Anthea im Beitrag #8Zitat von woipe im Beitrag #7
so - und jetzt mal butter bei die fische...
ihr kennt mich jetzt seit 330 beiträgen. manche auch noch aus tagen in einem anderen forum.
was bin ich? ein selbstinszenierer??? ein selbstverleugner??? oder was?
keine hemmungen bitte.
Auf mich wirkst du "normal", also "ganz bei dir". Oder anders:"authentisch"
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danke!
ich weiß jetzt nicht, ob das die antwort ist, die ich hören wollte...
normal bin ich sicher nicht...
ganz bei mir - ausser, wenn ich nicht bei sinnen bin...
authentisch - ich fürchte, das sieht jeder anders...
aber gut - hier findet ja auch nur ein teil meines lebens statt...
ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, die lüge wäre kein teil meines lebens...
es gibt schon momente im leben, in denen ich facetten meines ichs ausblende und andere bewußt hervorhebe.
bei bewerbungsgesprächen passiert so etwas wohl bei jedem...
ich bin auch im grunde ein sehr jähzorniger mensch, was ich aber definitiv meiner umwelt nicht zeigen will. es wäre fatal, wenn doch. also verständlich, oder?
es gibt auch bei mir die klassischen lebenslügen - wo man sich selbst etwas vor macht, oder wo man genau weiß, dass andere recht haben, aber definitiv nicht recht bekommen dürfen... diese werden aber definitiv niemandem verraten, sondern immer schön weiter gepflegt. ich kenne sie ja bereits und kann mit ihnen leben und umgehen.
es gibt auch dinge im leben, die man einfach nicht nach außen tragen will, weil möglicher weise dehmütigend sind, oder ähnliches... da stellt sich die frage, ob etwas zu verschweigen auch schon lüge ist - insbesondere in solchen fällen. ich tendiere zwar schon dazu, ein seelischer exibitionist zu sein, aber für mich gibt es das schon auch grenzen... ist lüge also manchmal nicht auch ein selbstschutzmechanismus???
ich habe mir für mein leben vorgenommen, so ethisch sauber wie irgend möglich zu leben. aber manches ist einfach eine gratwanderung.
moralische unterstützung habe ich dazu weder bei den religionsgemeinschaften noch bei irgendwelchen philosphen gefunden. ich finde nichts auf mich zutreffend. solche angelegenheiten muss der mensch letztlich mit seinem gewissen ganz allein abmachen...
"nichts habe ich mir fester zum grundsatz gemacht, als meine lebensführung nicht nach euren vorurteilen zu gestalten." seneca
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