Nietzsche – der grandios Zerrissene
Nietzsche – der grandios Zerrissene
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 23.06.2017 11:33von Anthea • | 12.633 Beiträge
Er war für mich genial. Er ist es, wenn ich mir viele seiner Werke anschaue. Mit ihrer Logik, mit ihrer Feinfühligkeit – und auch mit ihrer Ablehnung gewisser Dinge, zu denen er selbst keinen Zugang fand. Wobei sein „Gott ist tot“ oftmals falsch verstanden wird. Denn das die Menschen ihn getötet haben, das ist die Erkenntnis.
Denn Nietzsche war mehr als ein Philosoph. Er war Philologe, Komponist, Schriftsteller, Dichter, Psychologe und ein Philosoph. Und all dies spiegelt sich in seinen Schriften wieder. Und auch seine innere Zerrissenheit, seine Einsamkeit, seine Traurigkeit. Und bei ihm kommen zweifellos auch die Erkenntnisse Schopenhauers zum Tragen der schrieb:
"Zwischen dem Genie und dem Wahnsinnigen ist die Ähnlichkeit, dass sie in einer andern Welt leben, als die für alle vorhandene."
Ich wies früher schon auf das Buch von Irvin D. Yalom hin, der als einer der einflussreichsten und mehrfach ausgezeichneten Psychoanalytiker in den USA gilt:
„Und Nietzsche weinte“.
Es ist ein Roman, aber er zeigt mit den Stilmitteln von Dokumentation und dichterischer Freiheit den Menschen hinter dem Philosophen auf. Besser und verständlicher, so finde ich, als es die Beschäftigung mit seinen in den Grundlagen doch schwierigen Schriften könnte.
Es gibt viel über Nietzsche zu diskutieren, „brainstorming“ zu betreiben. Über seine Thesen. Z.B. diejenige des Mitleids.
Hierzu eine kleine Passage:
<<Mitleid […] man hat ihm die Tugend, den Boden und Ursprung aller Tugenden gemacht, - nur freilich, was man stets im Auge behalten muss, vom Gesichtspunkt einer Philosophie aus, welche nihilistisch war, welche die Verneinung des Lebens auf ihr Schild schrieb. Schopenhauer war in seinem Rechte damit: durch das Mitleid wird das Leben verneint, verneinungswürdig gemacht, - Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus […]<<
Stimmt das so? Macht das Negieren eines meiner Ansicht nach angeborenen „Gefühls/Talentes“, des Mitleids nämlich, die Welt, das Leben besser? Mutieren Menschen dann nicht zu einer Art von „seelenlosen Hüllen“?
Welch triste Epoche, in der es leichter ist, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil!
Albert Einstein
RE: Nietzsche – der grandios Zerrissene
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 23.06.2017 13:59von Luftdrache (gelöscht)
Zitat von Anthea im Beitrag #1
Stimmt das so? Macht das Negieren eines meiner Ansicht nach angeborenen „Gefühls/Talentes“, des Mitleids nämlich, die Welt, das Leben besser? Mutieren Menschen dann nicht zu einer Art von „seelenlosen Hüllen“?
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er wird also dadurch ausgezeichnet, dass er die Fähigkeit hat, mitleiden zu können - im Gegensatz zur Maschine. Das Mitleiden können kann also auch zum ethischen Korrektiv für eine mutmaßlich rationale Entscheidung werden.
Man stelle sich vor, die Welt würde nur von Computern entschieden...
RE: Nietzsche – der grandios Zerrissene
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 24.06.2017 09:25von Anthea • | 12.633 Beiträge
Zitat von Luftdrache im Beitrag #2Zitat von Anthea im Beitrag #1
Stimmt das so? Macht das Negieren eines meiner Ansicht nach angeborenen „Gefühls/Talentes“, des Mitleids nämlich, die Welt, das Leben besser? Mutieren Menschen dann nicht zu einer Art von „seelenlosen Hüllen“?
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er wird also dadurch ausgezeichnet, dass er die Fähigkeit hat, mitleiden zu können - im Gegensatz zur Maschine. Das Mitleiden können kann also auch zum ethischen Korrektiv für eine mutmaßlich rationale Entscheidung werden.
Man stelle sich vor, die Welt würde nur von Computern entschieden...
Ja, aber....
Dass Nietzsche das Mitleid ablehnt ist seiner Logik gewidmet, dass es nichts bringt. Sondern im Grunde genommen das Leid in der Welt verdoppelt. Auch wenn man sagen würde "ich teile deinen Schmerz" dann würde ein Teil der Bürde dem Leidenden abgenommen und auf einen vormals Nichtleidenden/Gesunden übertragen.
Wem nutzt das?
Aber es ist meiner Meinung nach sowieso falsch ausgedrückt. Man sollte sagen: Ich kann deinen Schmerz verstehen. Ich weiß, was du durchmachst, ich habe einen gefühlsmäßigen Zugang zu dem, was dich bedrückt, was dich unglücklich sein lässt.
Wie schreibt Nietzsche:
"Wenn alle Almosen nur aus Mitleiden gegeben würden, so wären die Bettler allesamt verhungert."
"Mitfreude, nicht Mitleiden, macht den Freund."
---
"Welch triste Epoche, in der es leichter ist, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil!"
Albert Einstein
RE: Nietzsche – der grandios Zerrissene
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 24.06.2017 16:26von Minou • | 149 Beiträge
Ist Mitleid denn eine Empfindung, die man beeinflussen kann? Es mag angeboren sein, wenn man sich in einen Menschen hineinversetzen kann, aber auch mit Vernunft lässt sich das Gefühl nicht steuern Es überfällt einen einfach und stellt sich auch unterschiedlich dar; während man den einen für etwas bemitleidet, kann man dasselbe einem anderen von Herzen gönnen.
Soviel ich weiß, hat Nietzsche auch gesagt, dass der Philosoph das allgemeine Leid nachempfinden soll.
Beginne den Tag mit einem Lächeln, denn jeder Tag ist ein Geschenk.
RE: Nietzsche – der grandios Zerrissene
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 24.06.2017 16:54von Anthea • | 12.633 Beiträge
Zitat von Minou im Beitrag #4
Ist Mitleid denn eine Empfindung, die man beeinflussen kann? Es mag angeboren sein, wenn man sich in einen Menschen hineinversetzen kann, aber auch mit Vernunft lässt sich das Gefühl nicht steuern Es überfällt einen einfach und stellt sich auch unterschiedlich dar; während man den einen für etwas bemitleidet, kann man dasselbe einem anderen von Herzen gönnen.
Soviel ich weiß, hat Nietzsche auch gesagt, dass der Philosoph das allgemeine Leid nachempfinden soll.
Liebe Minou, ich denke, dass Menschen es "lernen" durch das Leben selbst, abgestumpft zu werden. Selbsterhaltungstrieb. Nichts an sich heranlassen, dann kann auch nichts verletzen.
Dann gibt es die Menschen, die "antisozial" genannt werden. Ohne z.B. ein Unrechtsempfinden, die auch keine Reue kennen.
Und es gibt diejenigen, die unter Alexithymie leiden...
Alles nicht "normal".
Ich denke, dass Menschen in Pflegeberufen, Ärzte etc. sich schon ein ganz schön dickes Fell zulegen müssen. Sie können sich "Mitleid" einfach nicht leisten. Sie würden daran zerbrechen.
Solch ein Zitat von Nietzsche ist mir unbekannt. Denn gerade er ist doch derjenige, der das Mitleiden als schädlich erachtet. Und besonders wegen dieser "hehren" Eigenschaft die Kirche als verlogen anprangert.
Aber apropos Mitleid: Der große Dichter meiner Heimatstadt, Heinrich Heine, schrieb:
"Das Mitleid ist die letzte Weihe der Liebe, vielleicht die Liebe selbst."
Ich finde diesen Satz wunderschön. Gänsehautmoment.
"Welch triste Epoche, in der es leichter ist, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil!"
Albert Einstein
RE: Nietzsche – der grandios Zerrissene
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 24.06.2017 18:34von Hamlets Gummibärchen (gelöscht)
Zitat von Anthea im Beitrag #5Zitat von Minou im Beitrag #4
Ist Mitleid denn eine Empfindung, die man beeinflussen kann? Es mag angeboren sein, wenn man sich in einen Menschen hineinversetzen kann, aber auch mit Vernunft lässt sich das Gefühl nicht steuern Es überfällt einen einfach und stellt sich auch unterschiedlich dar; während man den einen für etwas bemitleidet, kann man dasselbe einem anderen von Herzen gönnen.
Soviel ich weiß, hat Nietzsche auch gesagt, dass der Philosoph das allgemeine Leid nachempfinden soll.
Liebe Minou, ich denke, dass Menschen es "lernen" durch das Leben selbst, abgestumpft zu werden. Selbsterhaltungstrieb. Nichts an sich heranlassen, dann kann auch nichts verletzen.
Dann gibt es die Menschen, die "antisozial" genannt werden. Ohne z.B. ein Unrechtsempfinden, die auch keine Reue kennen.
Und es gibt diejenigen, die unter Alexithymie leiden...
Alles nicht "normal".
Ich denke, dass Menschen in Pflegeberufen, Ärzte etc. sich schon ein ganz schön dickes Fell zulegen müssen. Sie können sich "Mitleid" einfach nicht leisten. Sie würden daran zerbrechen.
Solch ein Zitat von Nietzsche ist mir unbekannt. Denn gerade er ist doch derjenige, der das Mitleiden als schädlich erachtet. Und besonders wegen dieser "hehren" Eigenschaft die Kirche als verlogen anprangert.
Aber apropos Mitleid: Der große Dichter meiner Heimatstadt, Heinrich Heine, schrieb:
"Das Mitleid ist die letzte Weihe der Liebe, vielleicht die Liebe selbst."
Ich finde diesen Satz wunderschön. Gänsehautmoment.
Das Mitleid als solches ist keineswegs schlecht, aber es kommt darauf an, was danach kommt. Ein Onkologe, der seinem Patienten gerade eröffnet hat, daß er es noch höchstens sechs Monate macht, sollte ihn nicht mitweinend im Arm liegen. Mitleid darf nicht zur heulenden Mitverantwortungslosigkeit führen, sondern zum Mitleid gehört auch, den Kopf freizuhalten und demjenigen, mit dem man leidet, Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Also quasi ein aktives Mitleiden.
Immer wieder beeindruckend finde ich, daß gerade Nietzsche, der Philosoph des Antimitleides, darüber zusammenbrach, als er in Turin sah, wie ein Pferd unter seinem gefühllosen Besitzers litt.
RE: Nietzsche – der grandios Zerrissene
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 24.06.2017 21:59von denker_1 • | 1.609 Beiträge
<<< Man stelle sich vor, die Welt würde nur von Computern entschieden... >>>
Dann wäre die Welt überall so grausam wie Nazideutschland. Da fällt mir ein Ausspruch von Karl Dönitz, dem U-Boot Kommandanten des Dritten Reiches ein. Er sagte sinngemäß:
"Wenn wir ein Volk ausrotten wollen, müssen wir auch die Kinder beseitigen, sonst sind diese die Rächer von morgen".
Das ist eiskalte Kriegslogik. Ein Computer, der auf Krieg programmiert ist, wurde wohl mit Sicherheit so entscheiden.
Nie wieder Krieg, kann da die Antwort nur lauten, denn kriegslogisch hat Dönitz sogar Recht.
RE: Nietzsche – der grandios Zerrissene
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 24.06.2017 22:04von Anthea • | 12.633 Beiträge
Zitat von denker_1 im Beitrag #7
Schlimm ist dann, wenn man helfen möchte, aber nicht kann.
Ich denke, dass eine solche Bemerkung, wie du sie machst, dem eigenen Erleben zugeschrieben werden muss.
Einem Erleben, wie es wohl ein jeder "Gesunde" oder wirklich "Normale" - ausgestattet mit dem eigentlich in jedem Menschen seit "Menschwerdung" fest installiertem Mitleidsgefühl - irgendwie und irgendwann erfahren hat. Sehen, miterleben und ja - mitfühlen. In einer anderen Dimension, nicht einer, die in genau der gleichen Form das Leiden eines Menschen völlig gleich erleben lässt. Aber einer, die hinaus aus einem eigenen Leben hinauskatapultiert auf eine Ebene von Trauer und Schmerz. Und auch Entsetzen und Furcht.
"Denn mit des Geschickes Mächten, ist kein ew'ger Bund zu flechten".
---
"Welch triste Epoche, in der es leichter ist, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil!"
Albert Einstein
RE: Nietzsche – der grandios Zerrissene
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 25.06.2017 15:22von Minou • | 149 Beiträge
Zitat von Hamlets Gummibärchen im Beitrag #6
[quote="Anthea"|p296]
Solch ein Zitat von Nietzsche ist mir unbekannt. Denn gerade er ist doch derjenige, der das Mitleiden als schädlich erachtet. Und besonders wegen dieser "hehren" Eigenschaft die Kirche als verlogen anprangert.
Das kann man hier finden:
https://books.google.de/books?id=wncTAwA...pfinden&f=false
Beginne den Tag mit einem Lächeln, denn jeder Tag ist ein Geschenk.
RE: Nietzsche – der grandios Zerrissene
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 25.06.2017 15:44von Anthea • | 12.633 Beiträge
Danke für den Link.
Dort steht geschrieben:
<<Der Philosoph soll erkennen, was noth tut, und der Künstler soll es schaffen. Der Philosoph soll am stärksten das allgemeine Leid nachempfinden: wie die alten griechischen Philosophen jeder eine Noth ausdrückt, dort in die Lücke hinein stellt er sein System. Er baut seine Welt in dieses System hinein. <<
Das heißt jetzt aber nicht, dass Nietzsche FÜR das Mitleid war. Ganz im Gegenteil. Gerade dadurch, dass er dazu anregte, es quasi zu "studieren", es selbst "auszutesten", kam er zu seinem Abscheu davor.
Was auch seinen Gefühlsausbruch beim Pferd erklärt. Die zerstörerische, niederschmetternde, unglücklich machende Emotion, die ihn über der geschundenen Kreatur zusammen brechen ließ.
"Welch triste Epoche, in der es leichter ist, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil!"
Albert Einstein
RE: Nietzsche – der grandios Zerrissene
in Allgemeine philosophische Betrachtungen 25.06.2017 20:46von Luftdrache (gelöscht)
Zitat von Anthea im Beitrag #3
Dass Nietzsche das Mitleid ablehnt ist seiner Logik gewidmet, dass es nichts bringt. Sondern im Grunde genommen das Leid in der Welt verdoppelt. Auch wenn man sagen würde "ich teile deinen Schmerz" dann würde ein Teil der Bürde dem Leidenden abgenommen und auf einen vormals Nichtleidenden/Gesunden übertragen.
Wem nutzt das?
Gerade die Nutzen-Kategorie finde ich ein wenig fragwürdig in diesem Kontext. Wem nutzt es, wenn alles kalt nach Nutzenerwägungen betrachtet wird? Dann gäbe es keine Hilfe und kein Miteinander in dieser Welt.
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