Liebe Gemeinde,
ich habe vor einigen Tagen den alten Film "Mord im Orient Express" gesehen. Das inspirierte mich zum Entwurf eines Krimis mit fiktiven Persönlichkeiten.
Hier ist der Grundriss:
Mord in der Kathedrale
Kapitel 1 – Präludium in Mord-Dur
Es war ein schöner Abend für ein Verbrechen.
Die Sonne war so französisch golden, dass selbst Monet vom Himmel herab applaudiert hätte. Die gotischen Türme der Kathedrale von Chartres glühten wie zwei Orgelpfeifen Gottes, während drinnen eine bedeutend irdischere Pfeife auf ihren großen Auftritt wartete – nämlich eine 32-Fuß-Prinzipalpfeife aus Zinn, die, so viel sei verraten, heute Abend ganz und gar nicht nur zur Zierde diente.
Ich – Ernst von Blücher, Organist, Kantor, leicht temperamentvoll, schwer beleidigt – saß auf der Orgelbank. Ich war nobel gekleidet, mit Fliege, französischer Weste und einem diskret befestigten Beichtzettel in der Brusttasche. Darauf stand nur ein Satz:
„Kunst hat das Recht auf Selbstverteidigung.“
Delacroix war da. Natürlich war er da. Mit spöttischem Blick, französischer Arroganz und seinem ewigen Notizbuch. „Die Improvisation von Monsieur von Blücher wirkt wie ein streitsüchtiger Bock im Konzert der Lämmer.“
So hatte er meine Musik beschrieben. Ich hatte nie zuvor darüber nachgedacht, wie ein Bock klingt – aber wenn ich das heute richtig anstellte, würde er es nie wieder jemandem erklären.
Die Pfeife – 32 Fuß Prinzipal, C – hing über dem südlichen Querschiff, genau über Sitzplatz Nr. 17A, der durch „glücklichen Zufall“ an Delacroix gefallen war. Und während das Publikum hereinströmte, tat ich, was ein ordentlicher Mörder eben so tut: Ich übte.
Natürlich subtil. Die nötige Schwingung musste genau richtig vorbereitet sein. Es war wie bei Bach: Nur wenn alles exakt stimmt, fällt die Fuge nicht auseinander. Oder die Pfeife nicht runter.
Ein unauffälliges Fortissimo in der Tiefe. Ein pedalisiertes C. Ein Hauch Winddruck. Und – voilà – ein tödlicher Akkord.
Ich sah ihn da sitzen. Der Kritiker. Mit seinem arroganten Blick. Und da geschah es. Ich... zögerte. Nicht aus Schuld. Aus musikalischer Reinheit. Sollte ich wirklich meine Musik dafür missbrauchen?
Doch zu spät. Ich hatte das Manual berührt. Der Klang vibrierte. Der Prospekt atmete. Und dann – ein Krachen wie bei der Schöpfung selbst. Die Pfeife flog.
Schrei.
Stille.
Applaus.
(Der Applaus galt mir. Noch. Sie dachten, es sei Show.)
Und dann trat er auf den Plan: Hercule Poirot.
Klein. Schnurrbärtig. Klug. Unmöglich.
„Monsieur von Blücher“, sagte er, „es tut mir leid, aber Ihr Spiel ist – wie sagt man? – zu perfekt.“
„Das ist ein Kompliment.“
„Non. Es ist ein Indiz.“
Doch was Poirot noch nicht wusste:
Ich wollte nicht entkommen. Ich wollte… gerettet werden.
Denn was ich getan hatte, war ein musikalischer Akt – kein Mord im eigentlichen Sinne. Und irgendwo tief in mir – unter Prinzipal, Mixtur und Trompete – schlug noch ein Herz. Und das betete: „Herr, erlöse mich von der Pfeife, die ich selbst gelöst habe.“
Kapitel 2 – Der Meisterdetektiv und die fallende Pfeife
Poirot stand aufrecht wie ein Lineal in der ersten Kirchenbank, den Blick fest auf die Orgel gerichtet. Nur der linke Schnurrbartzacken zuckte nervös. Er mochte Musik. In Maßen. Doch was ihn wirklich störte, war das Geräusch einer 32-Fuß-Orgelpfeife, die mit einem dumpfen CRÔMPF! auf einem Menschenkopf landete.
„Mon Dieu,“ murmelte Poirot. „Die Franzosen sagen, der Tod kommt wie ein Blitz. Aber das war eher ein… Rohrkrepierer.“
Die Gendarmen stolperten herbei wie Statisten aus einer mittelmäßigen Operette. Poirot trat elegant zur Seite.
„Ich übernehme,“ sagte er zu Commissaire Gautier.
„Sie übernehmen?“, fragte Gautier irritiert.
„Oui. Ich bin Hercule Poirot.“
„Natürlich sind Sie das. Ich bin Napoleon.“
Poirot lächelte süßlich.
Delacroix sah nicht mehr arrogant aus. Eher… flach. Die Pfeife war präzise gefallen – wie ein Schwert, das vom Himmel stieg. Kein Splitter. Kein Aufprall auf Stein. Nur Opfer und Metall. Wie eine göttliche Strafe – oder eine exakte mathematische Berechnung.
Poirot inspizierte den Tatort und blickte zur Orgelempore, wo ich saß.
„Monsieur von Blücher, Sie haben den Platz des Opfers persönlich ausgewählt. Warum?“
„Ich dachte, dort sei die Akustik am besten.“
„Mais oui. Und vielleicht auch… die Gravitation?“
Poirot seufzte. Dann entdeckte er den Zettel unter der Orgelbank:
„Rette mich, Christus.“
Er steckte ihn ein. Und sagte nichts. Noch nicht.
Kapitel 3 – Die Tonspur des Todes
Poirot betrat die Orgelempore mit der Vorsicht eines Mannes, der nie wusste, ob er gleich an Weihrauch oder Staub sterben würde.
„Pardon, Monsieur von Blücher – dürfte ich einen Blick auf Ihre Todesmaschine werfen?“
„Sie meinen meine Orgel?“, fragte ich trocken.
„Mais oui. Ich meine das, was Sie für ein Instrument halten und andere für einen Sprengsatz aus Pfeifen, Registern und… katholischer Schuld.“
Poirot legte zwei Finger auf die Tastatur, drückte C. Es brummte wie Gottes Magengrummeln.
Dann hörte er sich die Aufnahme des Konzerts an – mit geschlossenen Augen. Bei Minute 17:34 riss er die Augen auf.
„Da! Das ist es! Dieser Doppelschlag. Ein pedalisiertes C und ein Triller auf dem Rückpositiv! Das ist keine Improvisation – das ist… eine gezielte Schwingungsinduktion.“
Er ging in die Sakristei, zu mir.
„Monsieur von Blücher. Sie haben mit Tönen getötet, nicht durch Kraft, sondern durch Resonanz. Ihre Musik war die letzte Bewegung in einem tödlichen Tanz.“
Ich senkte den Blick. „Ich weiß nicht mehr, ob ich Künstler bin. Oder Mörder.“
Poirot zog einen zerknitterten Zettel hervor. „Aber Sie wollten gerettet werden.“
Darauf stand: „Rette mich, Christus.“
Kapitel 4 – Die zweite Hand am Register
Am nächsten Morgen inspizierte ein Techniker den Pfeifenprospekt. Poirot begleitete ihn.
„Diese Schraube war nicht nur locker. Sie wurde vorsätzlich gelöst. Mit einem englischen Sechskantschlüssel.“
Poirot suchte Maurice Bouchard auf – den eifrigen jungen Organistenschüler. In seiner Schublade: ein Sechskantschlüssel und ein Notizbuch mit Resonanzberechnungen.
„Ich wollte ihn nicht töten! Ich wollte nur, dass er Angst bekommt! Ich wusste nicht, dass... dass seine Musik das auslösen würde!“
Poirot erkannte: Der Mord war eine ungewollte Kollaboration.
Er trat erneut an mich heran.
„Sie haben geglaubt, dass Sie allein töten. Aber in Wahrheit... waren Sie nur der zweite Ton im Akkord.“
Ich antwortete leise: „Dann ist meine Schuld... halbe Schuld?“
„Non. Es ist volle Reue.“
Epilog – Cantique de Grâce
Die Kathedrale war ruhig. Eine Messe für die Verstorbenen. Ich war allein an der Orgel. Keine Show. Kein Applaus.
Poirot saß in der dritten Reihe, den Hut auf dem Schoß.
Du spieltest: „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir.“
Langsam. Voller Gnade. Kein Zorn. Kein Stolz. Nur Demut.
Als der letzte Ton verklang, trat Poirot an dich heran.
„Monsieur von Blücher. Ich glaube, der liebe Gott hat Sie nicht freigesprochen, weil Sie unschuldig sind… sondern weil Sie gelernt haben, zu bereuen.“
Er verneigte sich. Nicht vor einem Täter. Sondern vor einem Menschen, der um Erlösung bat – und mit einer Taste antwortete.
Alles Gute aus Hamburg !